Schnee

In der Stadt Kars, im gebirgigen Nordosten Anatoliens, haben mehrere junge Frauen Selbstmord begangen. Der türkische Dichter Ka reist im Auftrag einer Istanbuler Zeitung aus seinem deutschen Exil dorthin, um die näheren Umstände dieser Todesfälle zu recherchieren und über die anstehenden Kommunalwahlen zu berichten, bei denen ein Sieg der Islamisten erwartet wird. Dabei gerät er in politische und religiöse Auseinandersetzungen und in ein für ihn undurchschaubares Netz von Beziehungen, Machtkämpfen und Intrigen. Auf der Suche nach seiner Jugendliebe, der Wahrheit und neuer Inspiration für seine Gedichte bewegt er sich wie in Trance durch die gottverlassene Kleinstadt. Dann geschieht ein Putsch. Heftiger Schneefall verhindert, dass irgend jemand die Stadt verlassen kann. Ka, in der Stadt eingeschlossen und ihr so vollkommen ausgeliefert, nimmt Kontakt auf zum Chefredakteur der örtlichen Zeitung, der schon oft über Ereignisse berichtet, die erst noch stattfinden sollen, besucht Bürgermeister und Polizeipräsident, Religionsführer, jugendliche Islamisten, Freundinnen und Familien der toten Mädchen, spricht mit den wenigen Besuchern der Teehäuser und nimmt an unterschiedlichsten Versammlungen teil.

Auch wenn der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk (*1952) mit den Elementen eines Politkrimis spielt, handelt es sich bei seinem Roman "Schnee" nicht (nur) um einen Thriller. "Schnee" ist auch mehr als ein Beitrag zu der Debatte, ob Frauen in den öffentlichen Einrichtungen des säkularisierten und doch vornehmlich von Moslems bevölkerten Staates Türkei ein Kopftuch tragen dürfen oder nicht. Orhan Pamuk schildert die türkische Gesellschaft, die im Spannungsfeld zwischen Islam und Verwestlichung, Tradition und Moderne eine neue Identität sucht. Schonungslos offen prangert er die Intoleranz und Kompromisslosigkeit der (laizistischen und islamistischen) Ideologen sowie die Brutalität des türkischen Polizeiapparates an. Die Abriegelung der Stadt Kars durch Schnee und Kälte symbolisiert die Isolierung einer erstarrten Gesellschaft, und die ostanatolische Stadt steht dabei für die gesamte Türkei.

Der Name des melancholischen Dichters Ka erinnert wohl nicht zufällig an den Protagonisten K. in einem Roman Franz Kafkas, der in einem verschneiten Dorf eintrifft und vergeblich versucht, Kontakt mit der Schlossverwaltung aufzunehmen ("Das Schloss"). Orhan Pamuk hat die Figuren differenziert charakterisiert und ihnen authentisch wirkende Dialoge in den Mund gelegt. "Schnee" ist ein atmosphärisch dichter, komplexer, fesselnder, intelligenter und zuweilen witziger Roman.

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